- Medizinnobelpreis 1914: Robert Bárány
- Medizinnobelpreis 1914: Robert BárányDer österreichische Neurophysiologe und Ohrenarzt erhielt den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Physiologie und Pathologie des Gleichgewichtsorgans.Robert Bárány, * Wien 22. 4. 1876, ✝ Uppsala (Schweden) 8. 4. 1936; 1900 Promotion; 1901 psychiatrische Tätigkeit; 1902 chirurgische Tätigkeit an der Wiener Universitätsklinik; 1903 Eintritt in die Universitätsohrenklinik Wien; 1905 Beobachtung des kalorischen Nystagmus; 1917 Leitung der Universitätsklinik für Ohrenheilkunde in Uppsala.Würdigung der preisgekrönten LeistungDer Beginn des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 verzögerte die Verleihung des Nobelpreises für Medizin. Als der Preis im Oktober 1915 schließlich vergeben wurde, befand sich der Preisträger in russischer Kriegsgefangenschaft. Der österreichische Ohrenarzt, Neurophysiologe und Chirurg jüdischer Abstammung Robert Bárány war kurz nach Beginn des Kriegs als Zivilarzt zur Leitung eines Lazaretts in Przemysl an der heutigen Grenze zwischen Polen und der Ukraine eingezogen worden und dort in Kriegsgefangenschaft geraten. Erst nachdem sich Prinz Karl von Schweden, der Vorsitzende des Schwedischen Roten Kreuzes, wiederholt für Báránys Freilassung eingesetzt hatte, gelang diese 1916. Im September 1916 konnte Bárány dann zur Annahme des Nobelpreises nach Stockholm reisen.Mit der Preisverleihung an Bárány fand die Erforschung eines Sinnesorgans höchste Anerkennung, das bis dahin allenfalls am Rand und im Störungsfall Aufmerksamkeit geweckt hatte: das Gleichgewichtsorgan. Obwohl bereits von Forschern wie den Franzosen Pierre Flourens und Prosper Menière und dem Tschechen Johann Evangelista Purkinje experimentelle und klinische Störungen des Bogengangorgans beschrieben waren, fehlte es an effektiven Untersuchungsmethoden und an einer zusammenfassenden Theorie der Funktionsweise dieses Organs.Der kalorische NystagmusAm 29. Mai 1905 hatte der gerade 29 Jahre alte Bárány in der Österreichischen Otologischen Gesellschaft eine einfache Untersuchungsmethode vorgestellt, mit der er bei gesundem Gleichgewichtsorgan durch einseitige, kalte oder heiße Ohrspülungen rhythmische Pendelbewegungen der Augen (Nystagmus) auslösen konnte. Später im Nobelpreisvortrag wird er erzählen, die Klage eines Patienten, das kalte Wasser bei der Ohrspülung mache ihn ganz schwindelig, habe ihn veranlasst, heißes Wasser zu nehmen, wodurch zwar ebenfalls Schwindel ausgelöst wurde, aber die Augen diesmal in die entgegengesetzte Richtung zuckten. Diese simple Prüfung des so genannten kalorischen Nystagmus ist bis heute die Standardmethode zur gezielten Überprüfung des rechten und linken Gleichgewichtsorgans geblieben.Bereits im Sommer 1905 postulierte Bárány eine Kreisbewegung der Flüssigkeit in den Bogengängen durch das Erwärmen oder Abkühlen des Ohrs mit dem Spülwasser. Diese Kreisbewegungen der Lymphe in den Bogengängen simuliere einen Bewegungseindruck und führe zu den kompensatorischen Pendelbewegungen der Augen, während der Körper sich vollständig in Ruhe befindet. Ein solcher Widerstreit zwischen den Empfindungen verschiedener Sinnesqualitäten verursache den typischen Schwindel, der beispielsweise auch beim Verlassen eines Karussells auftritt, wenn die Bewegungsempfindung durch die im Bogengang weiter zirkulierende Lymphe noch etwas anhält, obwohl man schon längst wieder fest steht.Báránys Theorie fand bis heute weitgehende Anerkennung, auch wenn Versuche im Zeitalter der Raumfahrt belegt haben, dass sie die Effekte nicht vollständig erklärt: Bei Experimenten der D1-Mission im Spacelab trat trotz Schwerelosigkeit, also unter Ausschaltung der Thermokonvektion, kalorischer Nystagmus auf, vermutlich durch eine direkte thermische Reizung des Statolithenapparats in den Bogengängen.Bárány entwickelte in den folgenden Jahren bis zu seiner Einberufung zum Kriegseinsatz aus klinischen Beobachtungen und einfachen Versuchen das gesamte Fundament der modernen Anschauungen zur Gleichgewichts-, Bewegungs- und Haltungskontrolle als einem fein abgestimmten Zusammenspiel von Gleichgewichtsorgan, Augenmuskeln, Augen, Körperstellung und Kleinhirn. Seine Analyse dieser neurophysiologischen Zusammenhänge ließ die systematische Beobachtung und Erforschung von Schwindelerscheinungen zu einer Spezialdisziplin innerhalb der Ohrenheilkunde werden, die heute weltweit etabliert ist. Der nach ihm benannte Zeigeversuch, der ebenfalls ins Standardrepertoire neurologisch-klinischer Diagnostik aufgenommen wurde, gibt ein weiteres Beispiel für die ihm eigene Forschungsrichtung. Das simple Nachführen einer mit offenen Augen einstudierten Zielbewegung bei geschlossenen Augen offenbart die wichtige Rolle des Gleichgewichtsorgans bei der Bewegungskoordination: Eine Störung dieses Sinnesorgans führt bei Bewegungen unter Ausschluss optischer Kontrolle (geschlossene Augen) zum Verfehlen des Ziels nach einer Seite, was zugleich den Sitz der Störung anzeigt.Streitigkeiten um Báránys LeistungenNach Bertha von Suttner (Friedensnobelpreis 1905) und Alfred Hermann Fried (Friedensnobelpreis 1911) war Bárány der erste Österreicher, der einen naturwissenschaftlichen Nobelpreis erhielt. Und er war einer der jüngsten Preisträger überhaupt. Seine Kollegen an der Wiener Fakultät reagierten auf die Entscheidung aus Stockholm mit einer Mischung aus Eifersucht, Antisemitismus und Plagiatsvorwürfen. Statt ihm den Titel eines Professors zu verleihen, ein Vorschlag Julius von Wagner-Jaureggs (Nobelpreis 1927), wärmte die Fakultät alte Prioritätsstreitereien zwischen Bárány und seinem ersten Förderer Gustav Alexander wieder auf, obwohl diese noch vor der Habilitation offiziell beigelegt und von derselben Fakultät auch nicht als Hindernis der Habilitation angesehen worden waren. Der Streit erregte großes Aufsehen, und die Presse spottete über die Gründe, warum österreichische Ärzte wohl Professoren ohne Nobelpreis, aber eben nicht Nobelpreisträger mit Professorentitel werden könnten. Enttäuscht entschloss sich Bárány noch während des Ersten Weltkriegs, seine akademische Karriere in Schweden fortzusetzen. 1917 ging er an die neu errichtete Universitätsklinik für Ohrenheilkunde in Uppsala, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1936 leitete. Auch nach seinem Weggang nach Schweden gingen die Auseinandersetzungen mit der Wiener Fakultät und der Österreichischen Bundesregierung weiter, ohne dass Báránys Verdienste in seiner Heimat zu seinen Lebzeiten eine offizielle Anerkennung fanden. In Wien mag sich so mancher durch die alleinige Auszeichnung des Jüngeren unter ihnen zurückgesetzt gefühlt haben. Seinen Kollegen fehlte auch der nötige Abstand, um die spezifischen Verdienste zu sehen: Mit Bárány wurde ein klinischer Forscher ausgezeichnet, der mit genial einfachen Versuchen und zahlreichen experimentellen Einzelbeobachtungen nicht nur die Spezialleistungen eines Sinnesorgans identifizierte, sondern aus diesen Teilergebnissen weitreichende Theorien der Hirnfunktion entwickelte.C. Borck
Universal-Lexikon. 2012.